10 Stunden Theater über die Probleme von Menschen, die vor 2500 Jahren gelebt haben? Die sich an Prometheus, Achill, Kassandra, Elektra und Odysseus abarbeiten? Die Macht der Götter, der Fluch der Atriden, unauflösliche Konflikte, nicht enden wollende Kriege. Doch die nicht ganz so alten Griechen wollen nicht länger Opfer des Schicksals sein, von äußeren Zwängen determiniert werden, die ständig und unausweichlich über sie hineinbrechen. Sie treten in Konflikt mit den Göttern und der Welt der Mythen, beginnen zu hadern, auch wenn jeder Ausweg zunächst der Falsche zu sein scheint, schuldbeladen und fatal. Heute haben die Menschen andere Probleme, oder? Aber die erste Demokratie der Welt, die im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen entstand, verhandelte diese Themen im Theater, das Volksfest und -versammlung zugleich war: ein Kult der kollektiven Emanzipation. Das damalige Publikum in Athen eignete sich in Tragödien, Komödien und Satyrspielen die alten Stoffe an, machte sie erlebbar und überwindbar. Hausregisseur Christopher Rüping und die Schauspielerinnen und Schauspieler der Münchner Kammerspiele vergegenwärtigen nun ihrerseits die Figuren, Texte und politischen Umstände des griechischen Dramas und nähern sich den Fragen und Konflikten der Antike aus zeitgenössischer Perspektive.
Ich meine: Wenn man zum Einen irgendwie einen Bezug zu Antike finden will, sollte man es sich ansehen. Es geht andererseits natürlich nicht nur darum, etwas zu lernen, nein. Man kann eher sagen: Es ist einfach ein vollkommen gelungenes Theaterprojekt.
In vier völlig unterschiedlichen Darstellungsformen erlebt man wesentliches Geschehen der Antike. Mythologie und Familientragödie. Es kommt derzeit weiterhin monatlich an jeweils einem Wochenende, Samstags und Sonntags. Auch Anfang Januar wieder.
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Es ist jedes Mal dasselbe: Keine einzelne Sekunde ist langweilig oder schleppt sich hin. Aufgebaut ist die Inszenierung wie auf den antiken dionysischen Feiern: Drei „ernsten“ Teilen folgt zum Abschluss ein vierter, „heiterer“ Teil. Jeder Teil ist eine völlig eigenständige Inszenierung, nichts wiederholt sich, nichts zieht sich.
Teil 1:
Die Entstehung der menschlichen Zivilisation. Prometheus, der Menschenfreund, schafft es, den Menschen im Streit mit Zeus das Feuer zu geben. Die Vorgeschichte, die im Stück garnicht vorkommt, sieht so aus: Zeus war ziemlich sauer. Prometheus wollte ihn austricksen. Und Zeus sagte sich dann: Feuer kriegen die Menschen nicht! Die Menschen lebten in Höhlen.
Aber Prometheus schnappte sich ein bisschen Glut und brachte sie – in einer Riesenfenchel – den Menschen. Und mit dem Feuer begann alles. Menschliche Zivilisation konnte sich entwickeln. Auch wenn Zeus – das war Teil der Inszenierung – immer wieder fragte: „Warum? Why? Sie werden Bomben bauen!“ Prometheus glaubte aber an die Menschen.
Kombiniert wird diese mythologische Geschichte der Entstehung der menschlichen Zivilisation dann mit einer der zahlreichen Liebesaffären von Zeus. Zeus liebte Io, allerdings bemerkte es Hera, die Ehefrau des Zeus, und griff immer wieder ein. Zeus verwandelt Io zunächst – nichts einfacher als das – in eine Kuh, um die Affäre zu vertuschen. Zuletzt musste Io aber in Gestalt dieser Kuh über das Meer fliehen. Daher das Ionische Meer und der Bosporus (bos heißt griechisch Rind). Denn Hera schickte ständig eine lästige und schmerzhafte Stechmücke, eine Rinderdassel, hinter ihr her.
Teil 2:
Teil 2 der Inszenierung ist der zehnjährige Krieg um Troja, den die Götter kräftig mitbeeinflusst haben. Die Armada der griechischen Schiffe, die Kämpfe zwischen Hektor und Achill, die Troerinnen, die Eingriffe der Götter in die Kämpfe, die Zerstörung Trojas (siehe dazu das obige Beitragsbild). Begleitet war es von Schlagzeugeinsätzen von Matze Pröllochs. Andromache, die Frau des Trojaners Hector, musste am Ende ihr Kind, ein Säugling, Astyanax, den Griechen geben, die es dann von der Stadtmauer – oder einem Turm – herunterfallen ließen, damit kein Trojaner je Troja wieder aufbaut. Hat ja gewirkt.
Teil 3:
Agamemnon kommt nach den zehn Jahren des trojanischen Krieges zu Klytaimnestra zurück, seiner Frau, und die Familientragödien beginnen. Ich kann dazu nicht alle Einzelheiten erzählen. Die – von den Göttern erstmals weitestgehend unbeeinflusste – Familientragödie um Orest und Elektra ist es, die „Orestie“. Orest und Elektra, die beiden Kinder des Agamemnon. (...)
Teil 4:
Fußball und Zinedine Zidane. Ein lockerer Ausklang, in dem man immer wieder Momente findet, in denen etwas Göttliches in der Luft zu liegen scheint. Wenn etwa einzelne SchauspielerInnen plötzlich einfach stehen bleiben und in den Himmel schauen. Oder wenn es um Zinedine Zidane geht.
Nun, dass es mir auch beim dritten Mal sehr gefallen hat, brauche ich wahrscheinlich nicht zu sagen.
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One of the most remarkable things about 'Dionysos Stadt' was that it never felt like an endurance test. It was put together by Christopher Rüping, the Kammerspiele's exciting and unpredictable in-house director, who in his past productions here – including a chamber reduction of 'Hamlet' for three actors, an electric captioning system and gallons of stage blood – has combined provocative stagecraft with striking emotional engagement.
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In this herculean undertaking, the entire cast deserved much credit. Standouts included Wiebke Mollenhauer as both an anguished, enraged Achilles and a French-accented Helen of Troy, and Gro Swantje Kohlhof as a schizophrenic Cassandra.
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Dieses Projekt will primär keine Aufbereitung antiker Stoffe für die Jetztzeit sein, sondern ist eine Formstudie, interessiert am Geist des Theaters, an diesem spezifischen Modus des Erlebens, der beweist, dass Theatersehen Rausch sein kann. Wenn es nach zehn Stunden, in denen kaum jemand gegangen ist, weitere zehn Minuten Standing Ovations gibt, dann haben Rüping und sein Team dabei sehr viel richtig gemacht. 'Dionysos Stadt' ist nicht nur ein Stück, das man sehen sollte, sondern sich auch gut zweimal anschauen kann.
So kommt es dann eine halbe Stunde vor Mitternacht. Da hat man es dann geschafft und darf jubeln. Im Haus der Berliner Festspiele stehen die Leute, die den Tag seit 14 Uhr schauend, lachend, denkend, feiernd, in den Pausen quatschend, essend, trinkend und tanzend miteinander verbracht haben – und klatschen fast zehn Minuten. Klatschen, grüßen, feiern ihren Unglücksbringer Prometheus. Sie danken ihm für die Kultur.
'Dionysos Stadt' [...] ist ein Bühnenfest. Es geht um nichts weniger als um die ewige Frage, warum der Mensch des Menschen ärgster Feind ist. Es geht um Gier nach Macht, um den Ursprung von Gewalt, um die Erfindung der Menschheit und ihren Hang zu Selbstauslöschung. Schwere Themen. Doch der aus der „Ilias“ und diversen antiken Dramen zusammengesetzte Vierteiler wirkt auf sein Publikum vereinnahmend statt abstossend. Und ist eines der radikalsten, ehrgeizigsten Theaterprojekte der Saison.
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