Vor Sonnenaufgang

Erschütternd, dass es für das Leben, wie es ist, nicht bessre Gründe gibt  

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Theater 
Residenztheater  

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Information

Altersempfehlung
Ab 14 Jahren
Dauer
180 Minuten
Musik
Marcel Blatti  
Bühne
Residenztheater  

Beschreibung

Gerhart Hauptmanns Dramendebüt evoziert 1889 einen der größten Skandale der deutschen Theatergeschichte und macht den erst siebenundzwanzigjährigen Schriftsteller und späteren Literaturnobelpreisträger über Nacht berühmt. Hauptmann erzählt von einer schnell zu Wohlstand gekommenen Bauernfamilie, deren sozialer Aufstieg mit innerer Verhärtung einhergeht, und ebnet dem Naturalismus den Weg auf die deutschsprachigen Bühnen.

Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer übernimmt Struktur und Figurenkonstellation des Hauptmann’schen Frühwerks, löst dieses aber aus der gesellschaftspolitischen Realität des späten 19. Jahrhunderts und bettet seine Mittelstandsfamilie in die triste Gegenwart eines urbanen Ballungsraums. Damit befreit er «Vor Sonnenaufgang» von der sozialutopischen Patina, der heute überholten Vererbungslehre und der sprachlichen Enge des schlesischen Idioms. Palmetshofers kluges Familienporträt macht an individuellen Krisen größere gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar: die Unversöhnlichkeit unterschiedlicher ideologischer Positionen und die Deformationen einer neoliberalen Gesellschaft.

«Die Welt wandelt sich. Wir erleben dies in den neuen Bedrohungsszenarien und Erosionserscheinungen westlicher Demokratien, im Erstarken der Populismen und Fundamentalismen, in der Verrohung und Radikalisierung der politischen Sprache und Diskurse, in der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft. Hinter der zivilisierten Fassade ist der Mensch ein rohes, verzweifeltes, unsolidarisches Tier.» Ewald Palmetshofer

Hausregisseurin Nora Schlocker wurde mit ihrer konzentrierten, psychologisch genauen Inszenierung des Theater Basel zu den 43. Mülheimer Theatertagen NRW und zum Heidelberger Stückemarkt 2018 eingeladen.

Kritiken

Bild eines*r Kritikers*in

Julia
Schleier

Theatertanten

Besuchte Premiere: 29. November 2019

Deine Texte, Ewald, mag ich sehr! Ach Leute, die Satzstellungen in Ewald Palmetshofers Texten und die Rhythmik seiner Sprache sind einfach unvergleichlich gut. So gut, dass ich selber dazu neige, mir Sätze in meinem Kopf auf Palmetshofer’sche Weise zusammenzufügen, immer mit dem Namen meines Gegenübers als Einschub in der Mitte.

Was mich beim Spielzeiteröffnungsstück „Die Verlorenen“ schon nachhaltig begeistert hat, wird in „Vor Sonnenaufgang“ sogar nochmal besser. Trotz typischer Palmetshofer-Rhythmik, scheinen die Figuren hier mehr Freiheiten zu haben. Die Schauspieler*innen geben den Figuren Nuancen und feine sprachliche Besonderheiten, mitbegründet durch höhere und aktuellere Umgangssprachlichkeit der Texte. Die Dialoge sind witzig, aktuell und greifen in fast jedem Satz sozial- und gesellschaftspolitische Diskurse auf, verwurschtelt in Thematiken, die schon absurd alltäglich scheinen: „Die Avocado ist schon braun am Rand – ja so lang wart ich schon auf euch.“

Und auch wenn der Text allein schon fast alles kann, fängt zusätzlich die Inszenierung noch weitere Kritikpunkte auf und stellt sie dar. So zielt Schlocker beispielsweise auf die niedrige Hemmschwelle, die Menschen Schwangeren gegenüber haben. Als dürfe jeder einfach drauf los tätscheln und den Bauch einer Frau streicheln – ungeachtet aller Abstandsnormen – nur weil sich ein Baby darin befinde. Überspitzt wird vor allem die Kritik am Patriarchat in der Darstellung und Inszenierung der Figur Egon Krauses. Steffen Höld zeichnet einen tollpatschigen, unangenehmen Alkoholiker, der seiner Tochter aus erster Ehe ein paar Zentimeter zu nahe kommt und der laut eigener Aussage auf den Tag warte, an dem er in der Bank für die Abwicklung von Geschäften erst mal die Unterschrift von Frau und Töchtern brauche. Ein paar Minuten später springen seine Gedanken schon zum nächsten Geschäft, und zwar dem früh morgens auf der Toilette.

Besonders sympathisch sind die Momente, in denen Palmetshofers Text seine Poesie und Wortwitze selbst auf die Schippe nimmt. Alfred Loth lotet die Situation aus- meeensch. Diese Portion Humor gibt der Gesellschaftskritik den richtigen Grad an Nahbarkeit.

Die dargestellte Familie, die in Figurenkonstellation auf Hauptmanns Werk beruht, aber in ein moderneres Setting verlegt wurde, ist chaotisch und wahrscheinlich. Die Familienmitglieder belauschen sich gegenseitig, niemand erzählt allen die ganze Wahrheit. Verschiedene Szenen aus dem Zusammenleben, getrennte durch schnelle und langsame Blacks, die mit Musik untermalt Szenenwechsel andeuten. So wie der Bewegungsmelder an der Außenfassade des Wohnhauses immer wieder die nachtschwärmenden Töchter, Schwiegersöhne und Unifreunde ins Licht rückt, so werden auch andere Geheimnisse im Laufe des Abends aufgedeckt, die eigentlich im Dunkeln bleiben sollten.

Am Ende des Stücks geht die Sonne auf; das Esszimmer, auf das wir Zuschauer*innen die ganze Zeit von außen geschaut haben, ist nun Ausgangspunkt und wir schauen von dort aus raus in den Garten und den Rest der Welt. Die Zeit „Vor Sonnenaufgang“ ist vorbei, die Helligkeit ist da, einige versteckte Wahrheiten sind ans Licht gekommen. Ein riesiger Scheinwerfer strahlt in Richtung Publikum und auch wir werden geblendet und beim Zuschauen und Mithören ertappt.

Julia Schleier   // Theatertanten

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Mitwirkende

Produktionsteam  

Inszenierung
Nora Schlocker  
Bühne
Marie Roth  
Kostüm
Marie Roth  
Licht
Tobias Voegelin  
Licht
Gerrit Jurda  
Dramaturgie
Constanze Kargl  

Besetzung  

Darsteller*in
Steffen Höld  
Darsteller*in
Cathrin Störmer  
Darsteller*in
Pia Händler  
Darsteller*in
Myriam Schröder  
Darsteller*in
Michael Wächter  
Darsteller*in
Simon Zagermann  
Darsteller*in
Thiemo Strutzenberger  

Weitere Hinweise

Hinweise
Von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann
Übernahme der Uraufführungsinszenierung des Theater Basel
Premiere 29. November 2019