Eine Jugend in Deutschland

Stück für Schauspieler*innen und Puppen nach dem Roman von Ernst Toller  

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Schauspiel 
Schauspielhaus  

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Information

Dauer
120 Minuten
Pause
ohne Pause
Sprache
Deutsch
Übertitel in
Englisch
Bühne
Schauspielhaus  

Beschreibung

Ernst Toller und seiner Generation wird ihre Jugend durch den Ersten Weltkrieg geraubt. Wütend und mit verzweifeltem Mut versuchen sie 1918/19 einem verwüsteten Land eine politische und menschliche Perspektive zu geben. In München wird 1919 die Räterepublik ausgerufen. Die Versammlung von 50.000 Körpern erstreitet im öffentlichen Raum demokratische Rechte, formuliert vorher nie Gedachtes. Doch die Versuchungen des Totalitären sind zu groß. Das Neue krepiert. Die Inszenierung sichtet die Flaschenpost einer ungeheuerlichen Vergangenheit und verknüpft sie mit der brandaktuellen Frage von revolutionären Versuchen heute, in Belarus und anderswo. Jan-Christoph Gockel spürt im Prinzip einer sechsteiligen Serie Tollers rastlosem Künstlerleben nach und wirft mit einem Mashup aus Puppenspiel, Film, Schauspiel und Musik einen Blick auf Tollers vergessenes Gesamtwerk.

Kritiken

Schaumschädel

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Mit dem Wunsch nach mehr Diversität im Theater knüpft Mundel auch an ein Leib- und Magenthema ihres Vorgängers Matthias Lilienthal an. Einen Abend wie "Eine Jugend in Deutschland" hätte es unter Lilienthal aber wohl nicht gegeben, inszeniert von Jan-Christoph Gockel, unterstützt von Puppenspieler Michael Pietsch und Musiker Anton Bermann. In knapp vier Stunden zeichnet Gockel ein melancholisches, fast zärtliches Porträt von Ernst Toller, Autor und Sozialist, der die Novemberrevolution in München 1918 mit anführte. Den Roman kann man schon noch machen, auch wenn er sich 2020 etwas verspätet anfühlt, gedachte man der Räterepublik doch schon 2019. Auf einer schlichten Drehbühne (Julia Kurzweg) erzählt er Tollers Leben in sechs Folgen, jede anders angelegt, als Film, Revue, politische Rede und Marionettentheater, angereichert mit Briefen und Passagen aus Tollers Theaterstücken. Der Ideenreichtum ist enorm: Napoleon grüßt, Hitler taucht auf in einem Schwank über das "Hotel "Vier Jahreszeiten" als Treffpunkt für Bald-Nazis. Den Marionetten kommt in der Inszenierung eine ganz neue Qualität zu, nämlich die als Wangenstreichler und Kampfgegner, wo Corona sonst Abstand erzwingt. Während der Folge über den Ersten Weltkrieg, in den Toller freiwillig zieht und aus dem er als Pazifist zurückkehrt, verlieren die Puppen die Gliedmaßen, einsam rotiert ein Haarschopf auf der Bühne, Julia Gräfner reißt einer den Schaumschädel auf. Sicher, die Inszenierung braucht die Puppen nicht. Sie zu haben, ist Spielerei und Luxus, mal ganz unbescheiden argumentiert. Den Neuen im Ensemble zuzuschauen - etwa Sebastian Brandes, Julia Gärfner, Martin Weigel und Bekim Latifi -, macht Laune, Gro Swantje Kohlhof und Walter Hess, alte Bekannte des Publikums, sind ohnehin eine Freude.
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Christiane Lutz   // Süddeutsche Zeitung

So eine Räterepublik ist schon eine Pfundsgaudi. Zumindest die Münchner Räterepublik, die in den Kammerspielen jetzt zum höheren Komödienstadl avanciert – als eine von vielen Episoden im Leben Ernst Tollers: Da drehen sich Hasen und Wolpertinger in Kardinalsroben zum Tanz, und skurrile Kohlrabi-Apostel fordern mit Piepsstimme, Rohkost zur Staatsdoktrin zu machen. „Eine Jugend in Deutschland“ heißt der fantasievolle Szenenreigen nach Ernst Tollers gleichnamigem autobiografischen Roman, den Jan-Christoph Gockel mit Menschen und liebevoll gebauten Gliederpuppen inszenierte.

Letztere sitzen in altertümlichen Schulbänken, was insofern passt, als der e Abend ein wenig wie Schulfunk für Fortgeschrittene wirkt: Der Regisseur, Mitglied im neuen Leitungsteam der Kammerspiele, hat eine (zu große) Menge Wissen über Leben und Werk des Dichter-Revolutionärs Toller (1893-1939) in ein geschmackvolles szenisches Gewand gesteckt, das aber den didaktischen Impuls nicht ganz verhüllen kann.

Gut unterhalten fühlt man sich trotzdem etwa von der Parodie auf Goethes „Faust“, wo statt Mephisto und Gott jetzt Napoleon und der heilige Franziskus (mit lila Neon-Leuchtkreuz) wetten: um Tollers Seele. Hatte der doch nach einer Jagd geschworen, nie wieder ein Gewehr anzufassen. Aber kaum bricht der Erste Weltkrieg aus, meldet sich der Sohn eines jüdischen Kaufmanns freiwillig an die Front – wo er zum Kriegsgegner und Sozialisten wird. Denn natürlich geht es nicht bloß lustig zu in einem Stück, dessen Stoff für ausreichend Tragik sorgt: wenn aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs berichtet wird, wo die Lebenden neben den Leichen schlafen, ist es mucksmäuschenstill. Und wenn die Puppen, die eben noch in den Schulbänken saßen, mit Stahlhelm und Uniform antreten, um peu à peu in alle Einzelteile zerlegt zu werden, wirkt das gerade ihrer Spielzeug-Anmutung wegen besonders schauerlich.

Rein optisch geht es zum Ausgleich kulinarisch zu dank traumhaft-surrealer Überblendungen von Videos mit dem realen Bühnengeschehen; und einmal verlässt André Benndorff in der Rolle Tollers gar das Theater, um in einem Doppeldecker, der im Hof steht, Flugzeugabsturz zu spielen – was natürlich per Video in den Saal übertragen wird. In wunderbar grotesken Schwarzweißfilm-Szenen sieht man dann, wie Graf Arco, der Mörder Kurt Eisners, ins Hotel Vier Jahreszeiten flüchtet, wo immer die völkische Thule- Gesellschaft tagte und wo ein Richter sowie der Polizeipräsident auftauchen, um dem Täter Schutz zu versprechen. Ja, ein Hotelpage bringt sogar einen Blumengruß von der SPD, die auch froh ist über den Mord – und an diesem Abend furchtbar schlecht wegkommt wegen ihrer Kollaboration mit den verbrecherischen reaktionären Eliten jener Zeit.

Anderen Parteien geht es aber nicht viel besser: wenn die berühmte Rede zum Kriegsbeginn 1914 eingespielt wird, in der Kaiser Wilhelm II. erklärt, es gehe „um Sein oder Nichtsein“, hat man ein Hoppala-Erlebnis. Haben wir nicht jüngst erst von Politikern gehört, es gehe „um Leben und Tod“? Tendenziell kann man den Abend übrigens auch als Rückwendung zum „richtigen“ Schauspieler-Theater werten. Natürlich ist es eine Freude, Walter Hess wieder zu erleben, dieses bescheidene Zentralgestirn jedes Kammerspiel-Ensembles. Aus der bisherigen Truppe ist außerdem die herrlich wandlungsfähige Gro Swantje Kohlhof dabei, aber auch viele neue Gesichter lassen Gutes erwarten, so etwa Leoni Schulz oder Julia Gräfner, die als dickes Kind mit Riesenlutscher für Erheiterung sorgt.

Wobei man ehrlicherweise dazusagen muss, dass das Vergnügen diesmal eher hypothetisch bleibt: Dass Masken neuerdings auch während der Aufführung Pflicht sind, torpediert als sensorische Dauer-Irritation jede eindringliche Kunstwahrnehmung. Aber bitte, wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Heftiger Beifall.

Alexander Altmann   // Münchner Merkur
Hoppla, wir leben!

Die Zerschlagung der Monarchie in Bayern nach den Grauen des 1. Weltkriegs, die Versammlung von 50.000 Menschen auf der Theresienwiese zur Ausarbeitung demokratischer Rechte und das Ausrufen des Freistaat Bayerns – Jan-Christoph Gockel inszeniert in „Eine Jugend in Deutschland“ ein Stück Münchner Zeitgeschichte und feiert damit am 16. Oktober 2020 Premiere im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele. „Nach dem Roman von Ernst Toller“ heißt es im Programm, aber das Stück ist vielmehr ein Konglomerat von Tollers Gesamtwerk. „Wir versuchen diesen ganzen Autor zu fassen, der sich permanent weigert ein Ganzes zu sein“, sagt Gockel in einem Podcast, der vor der Premiere erschien. Über Tollers autobiografisches Buch hinaus werden das Hoffen und Scheitern des Schriftstellers und Revolutionärs gezeigt – immer mit dem Blick auf das Jetzt, auf die Frage, was das mit uns heute zu tun hat. Ein Stück aufgeteilt in sechs Folgen, Aufführungsdauer 3½ Stunden, während denen man die Maske aufbehält. Das kann erst mal abschrecken, aber Gockel schafft es eine Dynamik zu erzeugen, die das Stück kurzweilig wirken lässt. Durch Überspitzungen, Verdichtung, das Durchbrechen der vierten Wand und Komik kriegt er die Kurve, um nicht zu moralisch zu sein.

Es ist die Geschichte von Ernst Toller, der nach seinen traumatischen Erfahrungen im Schützengraben des 1. Weltkriegs den Waffen abschwört und sich dem Sozialisten Kurt Eisner anschließt. Toller ist Revolutionsführer und Protagonist der Münchner Räterepublik, die sich nach dem Krieg bildete. Toller glaubt an die Utopie eines demokratischen Gesellschaftssystems. Diese Utopie zerbricht jedoch bereits nach kurzer Zeit. In „Eine Jugend in Deutschland“ rechnet er mit seinem eigenen Scheitern ab.

Schon vor dem Auftrittsbeginn laufen auf der Wand Filmclips der Schauspieler*innen ab, in denen sie unter anderem erzählen, was Jugend für sie bedeutet. Realität und Stück verschwimmen – ein immer wiederkehrendes Motiv. In Gockels Inszenierung spielen viele abwechselnd Toller – nicht nur das Ensemble selbst, sondern auch eine Puppe, beeindruckend geleitet von Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch. Bei Gockels Stücken nichts Ungewöhnliches: Zusammen gründeten sie bereits eine Kompanie. Aber es bleibt nicht nur bei der einen Puppe: In der ersten Folge sitzen den Schauspieler*innen nachempfundene Puppen auf Schulbänken. Sie sind leblos, aber nur solange bis die Schauspieler*Innen für sie sprechen. Später werden sie an die Schuhe geschnallt und werden dadurch zum Leben erweckt. Die Kriegsgrauen im Schützengraben werden anhand der Puppen erzählt. Das wird besonders eindrücklich, als sich eine Halbwand als Bühnenelement dreht und die Puppen immer weiter zerstückelt werden, einzelne Gliedmaßen rumliegen, weil sie Opfer der Kriegsgewalt geworden sind.

Die Dynamik im Stück wird durch verschiedene gestalterische Elemente erzeugt. Unter anderem mit Live-Musik und Geräuschen, die die Handlung das ganze Stück über begleiten. Das setzt Akzente: Mal ist es etwas Klavier-Geklimper, mal ein Akkordeon oder später ein Schlagzeug. Dadurch ist ein Rahmen gesetzt, ein Tempo, das geschaffen wird. Dieses Tempo ist noch stärker in der zweiten Hälfte nach der Pause zu spüren. Zum Beispiel, wenn ein schwarz-weißer Stummfilm abgespielt wird, in dem Gro Swantje Kohlhof großartig gleich fünf Rollen übernimmt, unter anderem die von Anton Graf von Arco auf Valley, der Kurt Eisner ermordete. Es ist wie ein Reinlugen hinter verschlossene Türen, wenn man die Szenen aus einem Hotelzimmer sieht, in der ein weiteres Vorgehen des Schützen besprochen wird. Gro Swantje Kohlhof macht live dazu eine Synchronisation, die entlarvend ist. Dadurch werden die Figuren urkomisch, aber nicht klamaukig, denn der Kern ist ein ernster und leider keiner, der nicht heute noch präsent wäre. „Das sei ja nur ein Einzelfall“, fällt als Satz, der auch heutzutage im Kontext rechtsextremer Gewalt herumschwirrt. Die vierte Wand wird wieder gebrochen: Im Hotel Vier Jahreszeiten, in dem die Hotelbesprechungen eigentlich stattgefunden hatten, hätte man den Film nicht drehen dürfen, „da wollte man sich nicht mit seiner Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen“. Der Bezug zu heute wird deutlich. Die antisemitischen Figuren des Films tragen „Fck Nzs“-Sandalen. Das ist zwar nicht subtil, aber funktioniert gut als Bruchelement.

Auch eine Liveschalte ist beeindruckend von André Benndorff als Ernst Toller, in der er außerhalb der Kammerspiele einen Flugzeugabsturz simuliert. Als Zuschauer*in sieht man eine Video-Liveübertragung auf der Bühnen-Rückwand. Erst beim zweiten Versuch zu fliegen wird ihm klar, dass er vielleicht gar nie geflogen ist. Der Flug als Symbol der Revolution – sie ist gescheitert, war vielleicht immer nur eine Illusion. Während der Schalte sind auch die Personen zu sehen, die normalerweise versteckt bleiben: Verantwortliche für Ton und Souffleusen. Hier werden sie Teil der Inszenierung, die Realität wird als Teil des Stücks.

Zum Ende hin landet Toller in einer artifiziellen Zukunftswelt. Alles ist schrill, bunt und laut – er weiß gar nicht mehr, wie ihm geschieht. „Übertragung aus der Hölle“, heißt es nach Karl Valentin. „Warst du wirklich so dumm und hast geglaubt, dass ihr das schafft?“, wird der aus dem Gefängnis entlassene Toller gefragt. Er wirkt resigniert. Toller selbst nahm sich mit gerade mal 45 Jahren das Leben. Die Revolution, an die er geglaubt hatte, war gescheitert. Die Inszenierung von Gockel schafft es, den Bogen in die Jetztzeit zu spannen. Was steht hinter Revolutionen? In diesem Stück gibt es Antworten darauf.

Katharina Holzinger    // Kultur in München

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